70 Jahre Patenschaft Landkreis Grafschaft Bentheim über die Kreisgemeinschaft Elchniederung e. V.
Urkunde über die Patenschaft
In diesem Jahr jährte sich zum 70ten Mal die Übernahme der Patenschaft durch den Landkreis Grafschaft Bentheim am 28. August 1955. Bei einem Treffen mit Herrn Landrat Fietzek im Jahr 2024 hatte dieser die Absicht bekräftigt, dieses Jubiläum mit der Kreisgemeinschaft feierlich begehen zu wollen, um auch mit dieser Feier einen Beitrag gegen das Vergessen zu leisten.
Bei der Planung konnte man nicht davon ausgehen, dass zu dieser Feier wie 1955 mehr als 1.000 Elchniederung den Weg nach Bad Bentheim finden würden. Schon bei den letzten Jubiläumsfeiern hatte die Zahl der Teilnehmenden deutlich abgenommen.
So wurden neben den Veranstaltern aus der Verwaltung des Landkreises Grafschaft Bentheim und einigen offiziellen Vertretern der Kreisgemeinschaft Elchniederung nur noch im Kreisgebiet lebende Landsleute aus der Elchniederung eingeladen.
Einladung
Die Teilnehmenden fanden sich dann am 28. August 2025 auf der Burg in Bad Bentheim ein. Zunächst war in den Marstall eingeladen worden. Bei Kaffee und Kuchen würdigten Herr Fietzek und der Kreisvertreter, James-Herbert Lundszien die Patenschaft.
Marstall
Herr Fietzek begann die Würdigung mit der folgenden Ansprache:
Sehr geehrter Herr Lundszien,
liebe Mitglieder der Kreisgemeinschaft Elchniederung
sehr geehrte Gäste,
die 13 ist oftmals als Unglückszahl verschrien – manchmal jedoch zu Unrecht, da ist sie ein Glückstreffer: Unter Tagesordnungspunkt 13 nämlich behandelte der Kreistag der Grafschaft Bentheim in seiner Sitzung am 19. März 1955 die Übernahme der Patenschaft über den Kreis Elchniederung. Der Beschluss dazu fiel einstimmig. Damit konnte der westlichste Kreis der Bundesrepublik die Patenschaft über den ehemals östlichsten Kreis des Deutschen Reiches übernehmen.
Am 28. August 1955, auf den Tag genau vor 70 Jahren, wurde diese besondere Patenschaft hier in Bad Bentheim feierlich besiegelt. Mit einer Kranzniederlegung am Kriegerdenkmal bei der Burg begann morgens die Veranstaltung. Nach dem offiziellen Gedenken an die Opfer des Krieges folgte der fröhliche Teil: Fast 2.000 ehemalige Elchniederunger und viele Grafschafter hatten sich in der Freilichtbühne eingefunden. Was manch einem heute nicht mehr bewusst ist: Unser Landkreis hat nach 1945 im Vergleich mit anderen Landkreisen überproportional viele Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten aufgenommen und versucht, ihnen eine neue Heimat zu geben – soweit dieses überhaupt möglich war.
Nach dem Feldgottesdienst folgte die offizielle Patenschafts-Übernahme. Landrat Richard Zahn überreichte dem Kreisvertreter des Kreises Elchniederung in der Landsmannschaft Ostpreußen die Patenschafts-Urkunde. Dieses bewegende Ereignis wird Kreisarchivar Christian Lonnemann gleich noch näher beleuchten.
In der Patenschafts-Urkunde heißt es wörtlich: „Durch diese Patenschaft soll einerseits die Heimatverbundenheit der Vertriebenen aus dem Kreis Elchniederung gestärkt werden, andererseits soll bei der eigenen Kreisbevölkerung die Überzeugung wachgehalten werden, dass auch ostwärts der Zonengrenze deutsche Gebiete liegen, die niemals aufgegeben werden können. Diese Urkunde wird in der Hoffnung vollzogen, dass der Tag nicht mehr fern ist, an dem der einst blühende, heute unter Fremdherrschaft stehende Kreis Elchniederung zu Deutschland zurückkommt.“
Dieser Duktus war damals, in den Jahren des Kalten Krieges, deutlicher Ausdruck der Sehnsucht nach einer Rückkehr in die alte Heimat.
Heute wissen wir: Die geschichtliche Entwicklung ist nicht so verlaufen, wie es sich die Väter der Patenschaft und viele andere 1955 erhofft hatten. Das Gebiet der Elchniederung gehört heute nicht zu Deutschland. Dass es noch einmal dazu kommen könnte, erscheint aus heutiger Sicht unrealistisch. Damals, vor 70 Jahren, war die politische Situation aber eine andere. Die Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat mag als berechtigtes Anliegen erschienen sein.
Zu dieser Zeit, auch daran möchte ich an dieser Stelle erinnern, war es gerade ein paar Jahre her, dass auch die Grafschaft Bentheim um ihren Verbleib bei Deutschland zittern musste. Die niederländischen Gebietsansprüche aus der Nachkriegszeit, die als Wiedergutmachung für die Kriegsgreuel eine Abtrennung von weiten Teilen unseres Kreisgebietes zugunsten der Niederlande bedeutet hätten, lagen gerade erst ein paar Jahre hinter uns. Vielleicht war es auch diese eigene Erfahrung, die das Verständnis für die Heimatlosigkeit und die Sorgen der Vertriebenen hier vor Ort so unmittelbar machte.
Meine Damen und Herren, auch wenn sich der Aspekt „Rückkehr in die Heimat“ mit der Patenschaft nicht erfüllt hat, eines ist über all die Jahrzehnte gewachsen: die Freundschaft und die Verbundenheit zwischen der Grafschaft Bentheim und den Menschen aus der Elchniederung.
Diese Patenschaft war von Anfang an mehr als eine Geste. Sie war gelebte Solidarität, etwa durch handfeste finanzielle Unterstützung seitens der Grafschaft beim Aufbau der Kreisgemeinschaft – eine nachhaltige Hilfe, wie wir am heutigen Tage hier sehen können.
Die vergangenen Jahrzehnte der Patenschaft zeigen, wie der Verlauf der Geschichte auch auf unser Verhältnis einwirkte. Oft waren es die kleinen Dinge, mit denen der Landkreis helfen konnte. Ein Beispiel: Unsere Nordhorner Textilunternehmen haben Stoffe gespendet, die insbesondere an die Elchniederunger in der DDR gegeben wurden. Denn diese Ihre Landsleute im anderen Teil Deutschlands waren oft, das geht aus dem damaligen Schriftwechsel hervor, die Sorgenkinder der Kreisgemeinschaft.
Wenn man die zahlreichen Berichte über die Jahrzehnte der Patenschaft liest, sticht immer wieder der Punkt „Bewahrung des Kulturgutes der Heimat“ heraus. Das sind große Worte.
Als Landrat freut es mich sehr, dass wir in dieser Hinsicht ganz praktische Hilfe leisten können, nämlich mit der Bewahrung und Bereitstellung der umfangreichen Aktenbestände zur Familienforschung des Kreises Elchniederung in unserem Kreis- und Kommunalarchiv. Frau Dawideit und Frau Bastemeyer sind regelmäßig im Archiv zu Gast, um den Bestand aufzuarbeiten, zu sortieren und zu verpacken.
Liebe Festgäste, heute können wir feststellen: Aus der formalen Patenschaft ist eine echte Freundschaft geworden, die Vergangenheit bewahrt, aber nicht im Gestern stehen bleibt.
Wir können und wir müssen an die Geschichte erinnern – auch, weil sie uns mahnt. Krieg, Flucht und Vertreibung sind damals wie heute bittere Realität, so etwa in der Ukraine, wo seit dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands Millionen Menschen vertrieben wurden. Wieder verlieren Menschen ihre Heimat, wieder erleben Familien Leid und Zerstörung.
Gerade in der heutigen Zeit wird deutlich: Frieden und Sicherheit sind keine Selbstverständlichkeit. Sie müssen immer wieder neu errungen, geschützt und verteidigt werden. Gleichzeitig gilt es, die Hoffnung auf Dialog und Verständigung bewahren. Viele setzen ihre Hoffnung derzeit darauf, dass durch Gespräche zwischen führenden Politikern endlich Wege zum Frieden eröffnet werden.
Vielleicht ist irgendwann auch eine Wiederaufnahme der Partnerschaft mit dem russischen Rayon Slawsk denkbar – eine Partnerschaft, die zusammen mit der Kreisgemeinschaft Elchniederung entwickelt wurde. In Folge des Krieges ist der Kontakt abgerissen. Bis heute herrscht Funkstille. Ich möchte aber die Hoffnung nicht aufgeben, dass es einen Zeitpunkt geben wird, an dem wir die Partnerschaft mit Slawsk wieder mit Leben füllen können.
Meine Damen und Herren, die Patenschaft zwischen der Kreisgemeinschaft Elchniederung und der Grafschaft Bentheim ist ein Symbol dafür, dass aus Leid Freundschaft erwachsen kann, dass Erinnerung Brücken baut und dass Versöhnung stärker sein kann als Trennung. Darum danke ich heute allen, die diese Verbindung über die Jahrzehnte gepflegt und mit Leben gefüllt haben. Möge dieses Band auch in Zukunft lebendig bleiben – als Zeichen der Menschlichkeit, als Auftrag zum Frieden, als Ermutigung für die kommenden Generationen.
Herr Lundszien seinerseits fand folgende Worte:
Sehr geehrter Herr Landrat, lieber Herr Fietzek, vielen Dank für Ihre begrüßenden Worte.
Es ist mir eine Ehre, Sie und unsere Gäste, die der Einladung des Landkreis Graftschaft Bentheim und der Kreisgemeinschaft Elchniederung e.V. zur Festveranstaltung am heutigen Tage gefolgt sind, ebenfalls sehr herzlich zu begrüßen. Ich wünsche uns allen eine erinnerungswürdige Feier und freue mich auf die gemeinsamen Stunden mit Ihnen.
Lieber Herr Fietzek, als die Delegation der Kreisgemeinschaft Elchniederung am 17.07.2024 bei Ihnen zum Gedankenaustausch zu Besuch war, kam auch das 70-jährige Bestehen der Patenschaft in diesem Jahr zur Sprache. Es stand für Sie außer Frage, dass dieses Ereignis zu würdigen ist. Dafür mein herzlicher Dank!!
Darüber hinaus geht mein Dank auch an die Herren Kliemt, Lonnemann und Ballmer sowie an Frau Winter, die für mich sichtbar an der Organisation des heutigen Tages beteiligt waren. Vermutlich waren aber viel mehr Kräfte daran beteiligt. Vielen Dank auch an die unsichtbaren Helferinnen und Helfer!!
Nun sind wir heute hier und begehen das Jubiläum einer Patenschaft, welche mehr Jahre überdauert hat, als ich selbst Lebensjahre vorweisen kann. Ich gehöre zur sogenannten nachgeborenen Generation, die selbst nicht in der verloren gegangenen Heimat zur Welt gekommen ist. Und die in der Patenschaftsurkunde zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, und ich zitiere „dass der Tag nicht mehr fern ist, an dem der einst blühende, heute unter Fremdherrschaft stehende Kreis Elchniederung zu Deutschland zurückkehrt“, hat sich bis heute nicht erfüllt. Die Landsleute aus der Elchniederung werden in ihren Herzen jedoch die Hoffnung nie aufgeben, dass die Elchniederung in einem geeinten Europa auch wieder Heimat für sie oder ihre Nachkommen sein kann.
Auch wenn wir die deutsche Wiedervereinigung als ein Wunder betrachten können, wird dieses Wunder bezogen auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete ausbleiben, insbesondere weil diese Gebiete jetzt die Heimat der dort lebenden Polen und Russen sind.
Und auch die anderen inhaltlichen Aussagen der Patenschaftsurkunde scheinen vielen nicht mehr zeitgemäß zu sein, insbesondere was die Verwendung des Begriffes „Heimat“ betrifft. Insofern hätte die Patenschaft bereits vor Jahren ein Ende finden können. Beispiele hierfür gibt es in der deutschen Landschaft genug.
Ja, im Jahr 2010 schickte der damalige Kreisvertreter Manfred Romeike an den früheren Landrat Kethorn einen Brief, der eine gehörige Portion Frust über die Entwicklung der Patenschaft enthielt. Er äußerte zwar Verständnis dafür, dass der Patenkreis aufgrund von Sparzwängen früher selbstverständliche jährliche Zuwendungen zwischenzeitlich eingestellt hatte. Unverständnis wurde aber über das häufige Fernbleiben von den Delegiertenversammlungen oder ausbleibende Grußworte zu unseren Kreistreffen, zu denen der Patenkreis eingeladen war, geäußert. Kritisch bewertet wurde auch die Unterstützung der Gründung des Fördervereins und die Schaffung eines eigenen Zugangs zur Verwaltung des Rayon Slawsk ohne eine Beteiligung der Kreisgemeinschaft Elchniederung e. V. in diesen Prozessen überhaupt ansatzweise zu berücksichtigen.
Das vorgeschlagene klärende Gespräch gab es dann relativ bald und ich meine, damals auch dabei gewesen zu sein. Auch der Vorschlag, dass zu den zweimal jährlich erscheinenden Heimatbriefen jeweils ein Grußwort des Landrates erscheinen sollte, wurde seitdem umgesetzt. Vielen Dank dafür.
Meine Wahrnehmung ist, dass die Patenschaft aus den ursprünglichen Inhalten der Urkunde herausgewachsen ist und sich diese vielmehr aufgrund der Realitäten weiterentwickelt hat.
Wenn wir als Kreisgemeinschaft uns heute an unseren Paten wenden, werden wir gehört. Wir könnten uns sicher noch intensiver austauschen, aber da müssen wir uns auch an die eigene Nase fassen. Denn schließlich ist das Thema „Patenschaft Kreis Elchniederung“ nicht das einzige Thema, welches Ihren politischen Alltag und Ihr Verwaltungshandeln ausfüllt. Das sieht bei uns Ehrenamtlichen überwiegend anders aus. Schließlich sagt man uns nach, wir hätten alle Zeit der Erde. Aber als Pensionär seit etwas mehr als 2 Jahren, kann ich das überhaupt nicht bestätigen.
Sie haben uns die Möglichkeit eingeräumt, unsere dokumentarischen Hinterlassenschaften und Zeitzeugnisse in Ihrem Kreisarchiv unterzubringen, Dafür stellen Sie Raum und bei Bedarf unterstützendes Personal zur Verfügung. Dieses Projekt gewinnt zunehmend an Bedeutung, weil viele Landsleute und für die Kreisgemeinschaft tätige Ehrenamtler am Ende Ihres Lebens oder ihrer Tätigkeit durchaus Bewahrens wertes Material zurücklassen. Vielen Dank für diese Unterstützung.
Wir sind uns weitgehend einig, dass wir uns eng miteinander abstimmen werden, wenn wir unsere jeweiligen offiziellen Beziehungen in den Rayon Slawsk nach dem Ende des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wieder aufnehmen können. Und da wir den Gesprächsfaden auf dem informellen Weg nie verloren haben, werden wir gerne Ihr Steigbügelhalter sein.
Wir dagegen werden dann vielleicht Ihre Unterstützung brauchen, wenn eine bereits in Heinrichswalde eingelagerte Orgel ihren neuen Bestimmungsort in der Heinrichswalder Kirche finden soll.
Genau, Die Rückkehr zu einer guten Beziehung mit der Bevölkerung und der Verwaltung des Rayon Slawsk wird dem Patenschaftsverhältnis einen weiteren Entwicklungsschub geben, insofern könnte es auch ein 80-jähriges Patenschaftsjubiläum geben,
Wenn, ja wenn…
Unter den Gästen heute befinden sich auch Vertreter der Stadtgemeinschaft Tilsit und des Kreises Tilsit-Ragnit. Mit diesen arbeiten wir schon seit mehreren Jahren gut zusammen und loten gerade die Optionen eines Zusammenschlusses der 3 Vereine aus. Wir verzeichnen einen natürlichen biologischen Mitgliederverlust, der nicht durch neue Mitglieder kompensiert werden kann. Darüber hinaus ist es wie z. B. in Sportvereinen immer schwieriger, Führungspersonal zu gewinnen. Der Zusammenschluss soll die zwangläufige Auflösung der Heimatkreisvereine für die nächsten Jahre ausschließen.
Wir werden Sie als unseren Patenkreis über die Entwicklungen jeweils zeitnah unterrichten und ggf. gemeinsam mit Ihnen die für die Kreisgemeinschaft Elchniederung bestehenden Herausforderungen bewältigen.
Insofern blicke ich mit Dankbarkeit auf die zurückliegenden Jahre der Patenschaft zurück und freue mich auf die Zukunft mit Ihnen als Vertretern unseres Patenkreis.
Den anwesenden Gästen danke ich für ihr Kommen und der damit zum Ausdruck gebrachten Wertschätzung gegenüber den Gastgebern. Sofern Sie der Kreisgemeinschaft als Mitglied angehören oder ihr aus Interesse zugewandt sind, danke ich für Ihre Zuwendung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
An die Reden schloss sich zunächst noch eine Zeit des gemeinsamen „Plachanderns“ an. Ab 16 Uhr wurden dann die Teilnehmenden durch die Burganlage und auch durch Räumlichkeiten geführt. Die Führungen waren mit interessanten geschichtlichen Hintergründen und auch der einen oder anderen Anekdote gewürzt.
Um 17:30 Uhr begann dann der Empfang im Burgcafé und Bistro „Ferdinands“ auf der Burg Bentheim. Beginnend mit einem Glas Sekt oder Saft wurde auf die Patenschaft angestoßen. Da an dem Tag mit Gewittern zu rechnen war, hatte man von einem Grillabend im Freien abgesehen. In der nach drinnen verlagerten Veranstaltung durften alle an wunderbar gedeckten Tischen Platz nehmen. Der Landkreis hatte es sich nicht nehmen lassen an jeden Platz eine kleine süße Aufmerksamkeit der besonderen Art zu legen.
Pralinen
Gruppenfoto
Kulinarisch war das Buffet eher mediterran ausgerichtet. Die Fleischgerichte kamen vom Grill. Und wie Herr Fietzek so einladend sagte, „Es wird immer wieder nachgelegt!“
Leider hat alles seine Grenzen, auch die Aufnahmefähigkeit von Nahrungsmitteln.
Das eigentliche Highlight des Abends war der Festvortrag des Landrates a. D. Friedrich Kethorn, der die Patenschaft in seiner Amtszeit über Jahre begleitet hatte.
Festvortrag 70-jährige Patenschaft LGB/Elchniederung
Sehr gehrter Herr Fietzek, sehr geehrter Herr Lundszien,
Es ist mir eine große Ehre – und auch eine persönliche Herzensangelegenheit –, heute anlässlich des 70-jährigen Bestehens der Patenschaft zwischen dem Landkreis Grafschaft Bentheim und der Kreisgemeinschaft Elchniederung zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Diese Zahl 70 ist mehr als nur eine runde Jahreszahl. Sie ist ein Symbol: In der Bibel gilt sie als Zahl der Vollendung und Beständigkeit – Moses berief 70 Älteste, die das Volk leiteten, und das babylonische Exil dauerte 70 Jahre: eine Zeit der Prüfung, die zugleich ein Neubeginn war. Auch der Psalm sagt: „Unser Leben währet siebzig Jahre“ – 70 steht also für ein ganzes Menschenalter – und diese Patenschaft hoffentlich noch viel länger.
So ist es auch mit unserer Patenschaft: Sie umfasst ein Menschenleben, eine ganze Generation – und hat dabei Wandel und neue Anfänge überstanden.
Diese Patenschaft ist mehr als ein symbolischer Akt. Sie ist ein Ausdruck gelebter Solidarität, historischer Verantwortung und menschlicher Verbundenheit über Generationen hinweg – ein Band, das bis heute nicht gerissen ist und hoffentlich auch nicht aus zweierlei Sicht reißt:
- Auch wenn die Menschen, die damals diese Patenschaft begründet haben, nicht mehr unter uns sind und bis heute die Nachkommen dieser Generation weiterhin zu dieser Patenschaft stehen,
- auch hoffentlich nicht reißt, da sich die Welt um uns verändert – ich denke an den Ukraine-Krieg, die bröckelnde Einheit innerhalb der EU, an das gesellschaftliche Miteinander unter uns und augenscheinlich der Pessimismus den Optimismus überlagert.
- Dabei denke ich an einen Ausspruch von Mahatma Ghandi: „ Die Geschichte der Menschheit lehrt uns, dass die Menschheit aus der Geschichte nichts gelernt hat“. Möge die Menschheit – meinetwegen auch über KI – zu einer anderen Erkenntnis kommen.
Wenn wir heute gemeinsam zurückblicken, blicken wir auf ein Kapitel deutscher Geschichte, das mit großem Leid und Verlust begann. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden über 12 Millionen Deutsche aus ihrer angestammten Heimat im Osten vertrieben. Auch die Menschen aus dem Landkreis Elchniederung verloren alles – ihre Häuser, ihren Besitz, ihre Dörfer, ihre Wurzeln.
Mit dieser Aufzählung denke ich darüber nach, wenn mir dieser Verlust in jungen Jahren widerfahren wäre
- Aufgewachsen auf einem Hof – nicht weit entfernt von hier
- Den Isterberg, die Burg, das Syen Venn
- Die Nachbarschaft zu Holland
- Die Bezeichnung Grafschaft Bentheim
- Die plattdeutsche Sprache
All das haben Ihre Vorfahren aus der Elchniederung bitter erfahren müssen, von heute auf morgen – persönlich unverschuldet – die Heimat verlassen.
Was blieb, war der Schmerz, die Erinnerung – und die Hoffnung, dass das, was einmal Gemeinschaft war, nicht vergessen wird.
In dieser Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung hatte unser damaliger Oberkreisdirektor Dr. Ernst Marwick eine mutige und weitsichtige Idee: eine Patenschaft zu übernehmen – nicht über ein Territorium, sondern über Menschen und ihre Identität. Am 28. August 1955 wurde dieser Gedanke Wirklichkeit. Über 2.000 Menschen aus der Elchniederung kamen damals nach Bad Bentheim – ein bewegender Ausdruck der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Halt.
Während sich die Bundesrepublik in den folgenden Jahrzehnten wirtschaftlich und politisch stabilisierte, war es vielfach bürgerschaftliches Engagement, das half, die Erinnerung an die alte Heimat wachzuhalten. In der DDR hingegen war das Schicksal der Vertriebenen kaum Teil des öffentlichen Diskurses. Nach der Wiedervereinigung öffneten sich neue Türen: Reisen zu den alten Heimatorten wurden möglich, erste Kontakte zur heutigen Bevölkerung in Slawsk konnten geknüpft werden. Auch der Landkreis Grafschaft Bentheim suchte aktiv die Verständigung mit dem heutigen Rayon Slawsk – ein Zeichen dafür, dass Versöhnung nicht nur möglich, sondern auch gewollt ist.
Wenn wir diese 70 Jahre betrachten, können wir sie uns wie die Jahresringe eines alten Baumes vorstellen: Jeder Ring erzählt von einem Jahr – manche geprägt von Stürmen und Verletzungen, andere von Wachstum und Kraft. Doch erst alle zusammen geben dem Baum seine Standfestigkeit. So ist es auch mit dieser Patenschaft: Sie ist gewachsen, gereift, hat viele Höhen und kaum Tiefen erlebt – und steht heute fest verwurzelt im Boden der gemeinsamen Geschichte.
Im 21. Jahrhundert, einer Zeit der Globalisierung und europäischen Integration, wandelte sich Erinnerungskultur weiter. Viele der Zeitzeugen sind inzwischen verstorben. Doch ihre Kinder und Enkelkinder tragen das Erbe weiter – mit neuen Formaten, neuen Fragen, aber mit derselben Haltung: der des Respekts, der Verantwortung und der Offenheit.
Nach 70 Jahren ist diese Patenschaft alles andere als eine historische Fußnote. Sie ist lebendig, weil sie von Menschen getragen wird. Sie ist bedeutungsvoll, weil sie zeigt, wie Erinnerung zu einer Brücke werden kann – zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Generationen, zwischen Kulturen.
Sie steht für:
- gelebte Solidarität,
- die Weitergabe von Identität und Werten,
- die Kraft des zivilgesellschaftlichen Engagements,
- und für ein Miteinander, das selbst große politische Entfernungen überbrücken kann.
Doch wir wissen auch: Die Welt hat sich verändert – und sie verändert sich weiter, oft auf beunruhigende Weise.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat nicht nur unermessliches Leid gebracht, sondern auch viele Brücken zerstört – auch die zarten Bande der Partnerschaft mit dem Rayon Slawsk, die seit 1993 zwischenmenschlich gewachsen war.
Was einst durch Bürgerbegegnungen, gemeinsame Projekte und offene Gespräche möglich war, ist seit Beginn des Krieges auf Eis gelegt. Das schmerzt – besonders, weil wir wissen, wie wichtig gerade in schwierigen Zeiten der Dialog ist. Zugleich sehen wir: Die europäische Friedensordnung, über Jahrzehnte scheinbar selbstverständlich, ist verletzlich. Völkerrecht wird gebrochen, Misstrauen wächst, Nationalismen kehren zurück.
Umso mehr ist es unsere gemeinsame Aufgabe, das, was uns verbindet, zu schützen: die Idee eines friedlichen, gerechten, demokratischen Europas.
Auch wenn Zeitzeugen weniger werden, dürfen wir nicht vergessen. Wir dürfen nicht verstummen. Und wir dürfen vor allem die junge Generation nicht außen vor lassen.
Wir müssen:
- die Erinnerung bewahren und gleichzeitig modern erzählen,
- Bildung und Austausch fördern – auch digital,
- demokratische Werte weitergeben,
- Räume für Begegnung schaffen – selbst wenn Grenzen politisch wieder undurchlässiger werden.
- Und wir müssen Mut machen – nicht Angst schüren.
Lassen Sie mich zum Schluss einen Appell richten an die heute politisch Verantwortlichen – im Bund, in den Ländern, auch in den Kommunen – aber auch an uns selbst:
Unterstützen wir die Arbeit der Patenschaften und Landsmannschaften. Sie leisten einen unersetzlichen Beitrag zur historischen Verantwortung Deutschlands.
Fördern wir den Dialog über Grenzen hinweg – gerade in Krisenzeiten. Denn wo Staaten schweigen, können Menschen Brücken bauen.
Schaffen wir Räume für Erinnerung und für Verständigung – in Schulen, in Archiven, in Museen und in Zusammenkünfte wie heute.
Und vor allem: Halten Sie die Geschichte wach – nicht um zu lähmen, sondern um zu leiten.
Diese Patenschaft, die vor 70 Jahren begann – sonst säßen wir heute nicht hier -, hat uns gezeigt: Aus Verlust kann Gemeinschaft entstehen. Aus Erinnerung kann Hoffnung wachsen. Und aus Geschichte kann Verantwortung erwachsen – für uns, für unsere Kinder, für Europa.
Konrad Adenauer hat einmal gesagt: „Geschichte ist die Summe der Dinge, die hätten vermieden werden können.“
Gerade deshalb ist unsere Aufgabe klar: Die Fehler der Vergangenheit dürfen sich nicht wiederholen. Unsere 70-jährige Patenschaft erinnert uns daran, wie wichtig es ist, Verantwortung zu übernehmen – und Brücken zu bauen, wo Mauern drohen zu entstehen.
Ich danke Ihnen allen – den vielen Ehrenamtlichen, Engagierten, Mitträgern dieser Freundschaft – für 70 Jahre gelebte Menschlichkeit. Möge dieses Band auch in Zukunft nicht reißen.
Gegen 21:30 Uhr endete eine gelungene Veranstaltung.





