Tilsit an der Memel erstreckte sich vom Flußkilometer 50 (Schloßberg) bis zum Kilometer 55,3 (Kornhaus Hafen). Die Memel, ihre Zuflüsse, Mündungsarme und die Vielzahl der Wasserläufe der Niederung waren für die Tilsiter Wassersportler ein Eldorado. Hunderte Einwohner waren in den verschiedensten Wassersportvereinen organisiert (siehe Karte).

Karte Tilsiter Wassersportvereine

In den 1920er Jahren kamen die Faltboote in Mode, sie waren preiswert, schnell aufzubauen und mit ihnen konnten auch Kinder und Jugendliche ihre schöne Heimat vom Wasser aus erkunden. Viele Tilsiter waren mit ihnen auf den Revieren der Memel und ihres Deltas unterwegs. Der Tilsiter Dr. Ernst Thomaschky, Lehrer an der Handelsschule Tilsit, ein begeisterter Sportler und Vorsitzender des „Tilsiter Sportvereines“, erstellte 1933 einen Wasserwanderführer für das nördliche Ostpreußen, der auch die Memel und die Vielzahl der Wasserläufe des Mündungsdelta beinhaltet. Diese Flüsse und Kanäle wurden von ehemaligen Einwohnern der Elchniederung in den Heimatbriefen beschrieben. In alten Tilsiter Rundbriefen wird von den Aktivitäten Tilsiter Wassersportler, darunter von Fahrten durch das Elchrevier am Kurischen Haff, berichtet. So fuhren die Kanuten des Tilsiter Kanu- Club Ende der 1920er Jahre regelmäßig zu Ausflügen in dieses Revier, befuhren die Gilge und auch mit ihren leichten Klepper-Faltbooten bei gutem Wetter über das Haff bis Nidden. Dieser Kanu-Club hatte sich in einem alten Fabrikgebäude in der Ragniter Straße ein Bootshaus mit 32 Stellplätzen, Clubraum und sanitären Anlagen ausgebaut. Herbert Endrunat berichtet darüber im „Tilsiter Rundbrief 1978/79. Ebenfalls frönten die Mitglieder des Postsportvereines, darunter viele Kinder und Jugendliche, dem Kanusport. Ihr schönes Bootshaus befand sich am Memelufer, unweit des Wasserturmes am Engelsberg in Tilsit-Preußen.

Tilsiter Kanu Verein 1934

Die Herzog-Albrecht-Schule hatte eine eigene Faltbootvereinigung und mit dem Lehrer Frank Richter wurden mehrtägige Ausflüge zu den Dörfern am Haff unternommen. Einen Bericht dazu veröffentlichte der „Tilsiter Rundbrief“ von 1985/86. Die Tilsiter fuhren meist mit dem auf der Memel fahrenden Liniendampfer bis nach Brionischken (Elchwinkel). Dort setzte man die leicht zu transportierenden Faltboote zusammen und begann die Fahrt. An Bord waren leichte Zelte und die Campingausrüstung.

Lassen wir eine solche Fahrt in die Niederung, wie sie vor nun fast 100 Jahren stattfand, in Gedanken nachvollziehen. Versetzen wir uns in eine längst vergangene Zeit in unserer engeren Heimat. Es ist ein Versuch, das nachzuerzählen, was sich dem Wasserwanderer darbot und laßt uns die Heimat mit der Seele erleben.

Vom Skirwieth Fluß bis zum Nemonienstrom, über 50 km lang und 10 km breit, im Mündungsdelta der Memel, entlang des Ufers des Kurischen Haffes, befand sich das ostpreußische Elchrevier. Hier, im von einer Vielzahl von Flüssen, Eschern, Kanälen, Verbindungsarmen und Waldgräben durchzogenen Ibenhorster und Tawellingker Forst, befand sich die Heimat unserer Elche. 

Das dünnbesiedelte Land, die wenigen, gefühlt weltabgeschiedenen Ortschaften befanden sich an den Mündungen der Ströme, boten ihnen gute Lebensbedingungen. Jahrzehnte aufopferungsvolle Pflege des Elchwildes durch die Förstereien, eine Vielzahl von Kanälen und Gräben zur Entwässerung des Revieres, das Anlegen von Weiden an den Kanalböschungen zur Äsung und die Ruhe in den weiten Wäldern, boten beste Bedingungen für dieses Wild. Wenige Straßen, zumeist erst in den 1930er Jahren angelegt und befestigt, führten in diese Dörfer am Haff. Über Jahrhunderte waren die natürlichen Wasserstraßen der Flüsse und die künstlich angelegten Verbindungskanäle und Waldgräben die wichtigsten, meist auch einzigen Verkehrswege der Bevölkerung. Sie waren die Lebensadern der Bewohner, der Fischer, Gemüsebauern und Landwirte der Dörfer am Haff. Auf ihnen wurde der Fischfang, die Gemüseernte, das Heu von den Haffwiesen und das Holz aus den Wäldern transportiert. Sie waren die Verbindungen zu den größeren Strömen, den Mündungsarmen der Memel, Skirwieth, Atmath, Ruß und Gilge, auf denen der Fischfang und die Ergebnisse des Gemüseanbaus zu den großen Märkten nach Königsberg, Tilsit und zu den Ortschaften der Niederung gefahren wurden.

Der Keitelkahn, die Spitzmaste, der Timberkahn und eine Vielzahl von Handkähnen aller Größen lagen an den Ufern der Ströme und Kanäle. Die rohrgedeckten Holzhäuser beiderseits der Mündungsströme hatten alle einen Anleger für den Kahn. Zwischen den Ortschaften von Skirwieth bis nach Gilge befanden sich befahrbare Wasserstraßen die dem Transport von Waren, der Bewirtschaftung der Wälder und des Transportes der Bevölkerung dienten. Für kürzere Verbindungen wurden schmale Kanäle und Gräben entlang der Haffküste geschaffen, die von den Forstbetrieben unterhalten wurden.

Eine Vielzahl kleiner Brücken führte über die Kanäle und Gräben. Die Häuser der Orte, die sich beiderseits der Ströme befanden, waren durch Fähren verbunden. In Tawe war eine Hubbrücke, um Kähnen mit Masten die Durchfahrt auf dem Kanal nach Inse zu ermöglichen. Damit ging man den vielfach kürzeren, aber gefährlichen Transportweg über das Haff aus dem Wege. Mit den Keitelkähnen unter Segel wurde der ergiebige Fischfang auf dem Haff betrieben.

Auch für die in den 1920er und 1930er einsetzende Wassersportbewegung waren die Wasserstraßen des Elchreviers ein Eldorado. Die Schönheiten dieser urwüchsigen Naturlandschaft ließen sich nur vom Wasser aus genießen. Unvergessene Eindrücke boten sich den Besuchern. Die Rufe der Rohrdommel waren zu vernehmen, Fischreiher, schwarze Störche, Enten und Kraniche hatten hier ihr Revier. Weiße und gelbe Wasserrosen blühten überreichlich in den Wasserläufen, in den Gräben wucherten üppig Schwertlilien und mit ihren blau-violetten Blüten der Schwarzwurz. Für Wasserwanderer, damals mehrheitlich mit dem Faltboot, waren vor allem die Fahrten durch die Erlenwälder und zu den Seen (Eschern) im Elchrevier ein Erlebnis. 

Wasserwanderführer von Dr. Ernst Thomaschky

Heute sind die künstlich angelegten Kanäle und Gräben kaum mehr existent. Die Mündungsströme wie Ibenstrom, Loyestrom, Insestrom, Tawelle und Gilge sind vielfach verunkrautet, versandet und kaum mit größeren Booten befahrbar. Die fehlende Bewirtschaftung und Entwässerung des Elchrevieres führte zur Unpassierbarkeit und Versumpfung. 

Die ersten Besucher ihrer Heimatorte nach 1991 fanden Skirwieth, Ackminge, Loye und Tawe nicht mehr vor, Inse und Gilge waren noch bewohnt, die Fischerei auf dem Haff noch betrieben, aber die Kirchen und viele der Häuser und Wirtschaftsgebäude nicht mehr vorhanden. Gemietete Bootsfahrten mit flachgehenden Booten auf der Tawelle brachten Besucher nach Tawe. Von der Ortschaft war nichts mehr zu erkennen, nur einzelne verrottete Holzpfeiler am bewachsenen Ufer verwiesen auf den ehemaligen belebten Ort.

Tawe heute

Pontonbrücke in Gilge

An den Strömen lagen nicht mehr die gewohnten Kähne und die Natur holte sich in ihrer Urwüchsigkeit die einstmalige Kulturlandschaft mit ihrer produktiven Hafffischerei und Landwirtschaft zurück. Die Wasserwege verloren ihre Bedeutung für das Leben der Bevölkerung. Auf den aktuellen Karten der Haffküste und des Elchrevieres ist erkennbar, dass viele der Wasserwege nicht mehr existent sind. Die Flüsse wurden vielfach durch den Haffdeich abgeschnitten und durch die heute fehlenden Pumpwerke nicht genügend mit Wasser versorgt. Sie sind zu stehenden, versandeten und zugewachsenen Gewässern geworden.

Ich habe die aktuelle Karte zur Hand genommen und die bis 1945 bestehenden Kanäle und Gräben und die Verbindungen zwischen den ehemaligen Dörfern und des Elchrevieres eingezeichnet (siehe Karte).

Die alten, historischen Bezeichnungen der Wasserwege habe ich angefügt.

Wasserweg Elchwinkel-Ackminge

Unsere fiktive Fahrt mit dem Faltboot führt von Brionischken nach Tawellningken. Ich suchte dazu nicht die kürzeste Verbindung aus, wir fahren auch nicht die Haffküste entlang, sondern wählen eine eindrucksvolle Route auf den vielen Flussläufen und Kanälen durch die Wälder des Elchrevieres. 

Wir starten unsere Fahrt mit dem Liniendampfer auf der Memel von Tilsit nach Brionischken (Elchwinkel). 
Hier schlagen wir unsere Zelte zur Übernachtung am linken Ufer der Teilung der Ruß, am Mündungsarm
Skirwieth auf und bauen unsere Faltboote zusammen.

Karte Wasserwege Elchrevier

Am nächsten Morgen starten wir unsere Fahrt auf dem idyllischen Skirwieth-Strom, halten uns immer links und erreichen nach sechs Kilometern das Fischerdorf Skirwieth.

Weiter geht die Fahrt in Richtung Haff, wir bleiben links auf dem Flussarm Ostraginnis Ost und biegen nach einem Kilometer links in den Wiesengraben ein und erreichen nach wenigen hundert Metern das kleine Fischerdorf Ackminge (ab 1938 Ibenwerder) am Fluss Ackminge (Ibenstrom). Unsere Fahrt führt flussaufwärts, an der Oberförsterei Ibenhorst vorbei, biegen rechts in den Labb-Fluß und dann setzen wir die Fahrt auf den Alg-Fluß fort. Dazu tragen wir unser Faltboot eine kurze Strecke über den Haffdeich zum Alg-Fluß. Dieser mündet einen Kilometer vor Karkeln in den Karkel-Strom, der hier durch den Zusammenfluss von Alg- und Graszder-Strom gebildet wird. Das große, touristisch erschlossene Kirchdorf Karkeln, liegt beiderseits des breiten Karkel-Stromes, in dessen Mündung ins Haff befindet sich die beliebte Badeinsel “Weinberg“ Vierzehn  Kilometer Strecke haben wir bewältigt.

Skirwiethstrom

Karkelstrom bei Karkeln

Zur Weiterfahrt nach Loye fahren wir die Karkel abwärts Richtung Haff an der Badeinsel vorbei und biegen links in die Mündung des Flüsschens Rungel ab, welches hier ins Haff mündet. Am Rungel Hebewerk biegen wir rechts in den Karkeler Graben ein, fahren vier Kilometer durch den Wald, fahren rechts in den Loye-Fluß und erreichen nach wenigen hundert Meter das abgeschiedene kleine Haffdorf Loye.

Loye

Die kürzeste Strecke nach Inse wäre der vier Kilometer lange Kanal, vorbei an der Försterei Loye. Wir entschließen uns, den längeren, landschaftlich schöneren, fünfzehn Kilometer langen Weg, durch den Ibenhorster Forst zu nehmen. Wir fahren den Loye-Fluß aufwärts, treffen nach sechs Kilometern auf den Pait-Fluß (bis hier hatte er den Namen Ackel) und biegen rechts in ihn ein. Vorbei am Jagdhaus Pait, auf einem kleinen Stichkanal rechterhand können wir zu ihm fahren, lassen links den Inser Friedhof auf einer kleinen Sanderhöhung liegen und erreichen nach 4 Kilometer den östlichen Ortsrand des schönen Kirchdorfes Inse.

Jagdhaus Pait

Hier mündet von links die Griebe und zusammen mit dem Pait Fluß bildet sie den Inse-Strom, der einen Kilometer durch Inse fließt und nach weiteren 600 Metern, links und rechts von Molen eingefasst, ins Haff strömt. Das sehenswerte Dorf mit seiner hölzernen Dorfkirche, einer Vielzahl von Keitelkähnen, schönen Fachwerkhäusern, der Jugendherberge  und seinen Gasthöfen lädt zur Übernachtung ein. Unser erstes Tagesziel ist erreicht. Mit unserer Faltbootgruppe übernachten wir in der Jugendherberge des Haffortes.

Inse

Unser weiterer Wasserwanderweg führt uns von Inse nach Tawe. Wieder verzichten wir auf den kürzesten Weg durch die zwei Kanäle parallel zur Haffküste. Dreizehn Kilometer führt unsere Strecke durch den Wald. Wir fahren die Griebe aufwärts, biegen nach vier Kilometer rechts der Kaiser Brücke über den Griebener Escher in den Kaiser Kanal. Nach vier Kilometern fahren wir rechts in den Tawener Escher. Dieser beeindruckende schmale Waldsee inmitten des Forstes Tawellenbruch, unweit der Försterei Meyruhnen (Quednau), ist fast vier Kilometer lang und stark bewachsen. Am südwestlichen Ende des Escher biegen wir stromabwärts in die Tawelle und erreichen nach zwei Kilometer das Fischerdorf Tawe.
Es gehört zum Kirchspiel Inse und bekam erst 1937 eine feste Straßenverbindung. Die Taewelle nach Seckenburg an der Gilge, war historisch die wichtigste Verbindung für das Dorf. Vorbei am schönen Schöpfwerk Kastaunen waren zwölf Kilometer mit dem Boot zu fahren.

Tawe

Wir entschließen uns, nach Gilge über einen der beiden Gräben Tawe-Gilge zu fahren. Von der Tawelle biegen wir südlich von Tawe in einen Graben, der fünf Kilometer entlang des Waldes führt und erreichen am Nordrand von Gilge den Mündungsstrom Gilge, den größten Fluss der durch die Elchniederung führt. Das Kirchdorf Gilge ist das größte und schönste Dorf am Haff und hat erst seit 1927 eine feste Straßenanbindung nach Nemonien. Eine 900 Meter lange Mole befindet sich an der Mündung der Gilge ins Haff. In Gilge bauen wir unsere Zelte auf und genießen einen schönen Abend am Haffstrand.

Gilge

Vom Dorf Gilge aus fahren wir an nächsten Tag die Gilge sechzehn Kilometer stromaufwärts bis Tawellningken. 
Am Gasthaus von Walter Ebner, hier befindet sich die Gilgefähre und die Anlegestelle der Seitenraddampfer nach Tilsit, gehen wir an Land.

Gasthaus Ebner Tawellningken

Unsere Fahrt auf dem Wasser durch die Landschaft des Elchrevieres, sie war vierundsiebzig Kilometer lang, endet hier. Tawellningken ist Endstation der täglich verkehrenden Touristendampfer von und nach Tilsit. Wir bauen unsere Faltboote auseinander, gehen an Bord und erreichen am Abend die Anlegestelle am Memelkai in Tilsit.

Eine erlebnisreiche Fahrt durch unsere Heimat geht nach vier Tagen zu Ende. Wir haben uns gedanklich in die Zeit der Kulturlandschaft der Elchniederung, der gepflegten Forstreviere, der abgeschieden Haffdörfer, den Mündungströmen und Kanälen und geliebter Lebensräume der ehemaligen ostpreußischen Bevölkerung hineinversetzt.
Mein kleiner Reisebericht auf den Wasserwegen des Elchrevieres der Niederung soll diese Erinnerungen am Leben halten.

Elch an der Haffküste der Elchniederung

Bernd Polte
Stege 3, 19322 Abbendorf
koljawanja@gmx.de

Literatur:

  • Wasserwanderführer durch das nördliche Ostpreußen und das Memelland, Dr. Ernst Thomaschky,
    Selbstverlag 1933, Replik Verlag Rautenberg, 2950 Leer, 1989
  • Die Kirchengemeinde Inse, Kreisgemeinschaft Elchniederung, Verlag Rautenberg 2950 Leer
  • Tilsiter Rundbrief 1978/79 und 1985/86
  • Blochplan Nord-Ostpreußens Norden, 2020

Bildnachweis:

  • Die Kirchengemeinde Inse, Kreisgemeinschaft Elchniederung, Bild 7-11,
  • Bildarchiv Ostpreußen Bild 4, 6a, 7, 12, 13, 14
  • Stadtgemeinschaft Tilsit Bild 2

 

Heimatbrief 81, Pfingsten 2025