Mittelschule Kreuzingen von Cuno Welsch
Fotos: Die Mittelschule in Kreuzingen 1943 und 1993.
Nach Ostern 1938 kam ich in die Mittelschule Kreuzingen (Skaisgirren). Sie war in der Tilsiter Straße. Nach der einklassigen Volksschule in Grenzberg (Groß Asznaggern) mit Herrn Lehrer Kurt PRICKLER war für mich alles neu und ungewohnt. In meiner Klasse kannte ich außer meinem Vetter Gerhard KOPP keinen weiteren Mitschüler.
Nach kurzer Zeit fielen mir zwei ältere Schüler auf. Es waren die Söhne von Familie GRODSZINSKY, einem offensichtlich jüdischen Textilgeschäft, Stoffe und Oberbekleidung. Die beiden Jungen waren in der Schule nicht gut angesehen. In den Pausen standen sie allein irgendwo herum. Sie liefen oder tobten nicht mit anderen Jungen und hatten auch kaum Freunde. Ich habe mir immer Gedanken gemacht, warum sie nicht gut angesehen waren. Im November 1938 wurde das Textilgeschäft Grodszinsky ausgeräumt. Die Waren und Möbel lagen auf der Straße. Die beiden Jungen kamen nicht mehr in unsere Schule.
In der Mittelschule kann ich mich an folgende Lehrer erinnern: Rektor SCHILLAK, später Schulrat KLEIN, Herr PAMPE, Herr KRICKLIES, Herr INTAT, Fräulein ACKERMANN, Fräulein RIEL. Später gab es noch Herrn ALSHUT, Herrn HUNDRIESER, Fräulein von WILLMS, Frau Neubert, Fräulein BECKER, Herrn SCHNABEL.
Im ersten Schuljahr war Herr PAMPE unser Englischlehrer. Von der zweiten Klasse Fräulein Ottilie RIEL, genannt „Tiela“. Sie war sehr streng und ein bisschen Oberlehrer. In den ersten Jahren wurden die Pausen mit einer Handglocke eingeläutet. Das war Tielas Amt, ein Schüler, meistens ich, musste dafür sorgen, dass die Handglocke vor der Englischstunde auf ihrem Schreibtisch stand. Dafür musste ich die Glocke aus der Klasse holen, in der Tiela vorher unterrichtet hatte. Vergessen? Unmöglich! In einer anderen Klasse ist Tiela einmal so stark mit dem Fuß auf den Boden getreten, dass das Fußbodenbrett brach und ein Loch im Fußboden entstand. Die Lehrerin war in der ganzen Schule nicht sehr beliebt, weil sie so streng war. Wir mussten viel lernen. In der sechsten Klasse wurde nur noch Englisch gesprochen. Unsere Klasse hatte inzwischen ein freundschaftliches Verhältnis zu Tiela. Sie war auch unsere Klassenlehrerin. Nach einer Klassenarbeit hatten wir als Hausaufgabe die „Berichtigung“. Dann sollten die Schulhefte abgegeben und in den Schrank gelegt werden. Das war am ersten April. An dem Tag hieß es: Ich kann dich zum Narren machen wie ich will. Tiela sollte einmal der Narr sein! Zwei Mädchen in der ersten Reihe unserer Klasse, Ruth WITTÖSCH und Erika WIXWAT , standen hintereinander auf und sagten: „Ich habe mein Heft vergessen.“ Tiela wollte gerade mit dem fälligen „Donnerwetter“ beginnen, da riefen beide: „April, April!“ Tiela lachte und sagte: „Heute vergessen wir Vokabeln und Grammatik. Wir lesen englische Lektüre.“
Viele Jahre später bin ich mehrmals nach England, Amerika und Kanada privat in Urlaub gefahren. Dort konnte ich mich in englischer Sprache, die ich dank Tiela in der Schule gelernt hatte, gut verständigen.
Eine andere Lehrerin war Fräulein Grete ACKERMANN, genannt „Schachtel“. Sie unterrichtete Mathematik, Biologie und andere Fächer. Der Acker-Schachtelhalm war eine Heilpflanze, die sie gut beschreiben konnte. Daher der Name Schachtel. In Mathematik konnte die Schachtel viele Lehrsätze geduldig erklären. Wir lernten Dreisatz, unbekannte X-Gleichungen, Pythagoras bis zu den Logarithmen.
Der Lehrer Herr ALSHUT erschien im grünen Anzug mit langen schwarzen Lederstiefeln. Am Anfang seiner Unterrichtsstunde musste ein 30 cm langes Holzlineal auf seinem Schreibtisch liegen. Das brauchte er zur Bestrafung der Schüler, die Fehler machten. Bevor man mit dem Lineal einen Schlag auf die Backe bekam, fragte Herr ALSHUT: „Hast verdient?“ Wenn man sich seiner Schuld bewusst war, hieß die Antwort „Ja“. Bei „Nein“ mit einer guten Begründung bekam man eine Gutschrift für den nächsten Fehler. Da musste man ganz schnell, bevor der Schlag ausgeführt wurde, sagen: „Ich habe eine gut“. Der Schlag auf die Backe war nicht schmerzhaft, er war auch nur symbolisch gemeint. Einmal hatte Herr ALSHUT Pausenaufsicht. Er musste dafür sorgen, dass alle Schüler die Klassenräume verließen und auf dem Schulhof spazieren gingen. Ich hatte mein Frühstücksbrot vergessen und rannte deshalb zurück in unseren Klassenraum. An der Tür prallte ich mit Herrn Alshut, der eine stattliche Figur hatte, zusammen. Das Holz-Lineal steckte in seinem Stiefelschaft. Prompt kam die Frage: „Hast verdient?“ Antwort: „Ja“. Patsch, hatte ich eine weg.
In Erdkunde unterrichtete uns Herr INTAT , der „Igel“. Er war streng, aber wenig humorvoll. Der Igel kannte Deutschland von Ost- und Nordsee bis zu den Alpen und vom Saarland bis zum Memelland. Viele Städte und deren Bedeutung, Landschaften und Flüsse. Der Lehrer erklärte, und wir mussten Stichworte mitschreiben. In der nächsten Erdkunde-Stunde sollten wir möglichst genau wissen, was er uns erzählt hatte. Als wir Deutschland im Kopf hatten, stürzten wir uns auf die anderen Kontinente und Länder der Welt.
Eine Geschichte, die ich nicht selbst erlebt habe. Erdkunde: Die Weltkarte wird aufgehängt. Der Lehrer fragt: „Wer kann mir auf der Karte Amerika zeigen?“ Willi meldet sich. Er wird nach vorn gerufen, nimmt den Zeigestock und zeigt Amerika. Der Lehrer sagt: „Gut, und wer hat Amerika entdeckt?“ Er erwartet die Antwort: Kolumbus. Die Schüler rufen aber: „Der Willi!!“
Noch einmal „Willi“ auf Plattdeutsch:
Wille Pille foor noah Szille
Fer e Fennisch Schniefke hoale
Fer e Fennisch krech er nich
Un e Dittke had er nich
Wille Pille ärgerd sich.
In der Tilsiter Straße, in der Nähe unserer Schule, gab es eine Bäckerei. Da konnte man Brot, Brötchen und Kuchen kaufen. Für 10 Pfennig gab es drei Brötchen. Herr PAKSCHIES, der Kirchendiener (?) der evangelischen Kirche, kam in die Bäckerei und sagte: „Ich hätte gern für 10 Pfennig Brötchen.“ Die Verkäuferin reichte ihm die Tüte mit den Brötchen. Da fragte Herr Pakschies: „Was kostet der Spaß?“ Antwort der Verkäuferin: „10 Pfennig. Wir Schüler, die in dem Laden waren, fanden das lustig. Wenn einer für 10 Pfennig Brötchen kaufte, fragte er hinterher: „Was kostet der Spaß?“
Von der Tilsiter Straße gab es rechts eine Abzweigung nach Schillen, die Schiller Straße. Da hatte Herr Richard DIECK (Dyck?) ein Schreibwarengeschäft und Schulbedarf. Meine Füllfederhalter-Tinte war alle, und ich ging in das Geschäft. Ich stellte das leere Tintenfass auf den Ladentisch und sagte: „Bitte auffüllen.“ Herr Dieck sah das Tintenfass und sagte: „Das Tintenfass ist nicht ausgewaschen, da gieße ich keine neue Tinte hinein. Das Auswaschen kostet 5 Pfennig extra.“ Ich sagte: „Das bezahle ich nicht.“ „Dann bekommst du keine Tinte“, sagte der Ladeninhaber. Ich nahm das leere Tintenfass vom Ladentisch und ging zur Tür. Herr Dieck war ärgerlich. Er kam eilig hinter´m Ladentisch hervor und ging mit großen Schritten zur Tür. Er öffnete diese und bat mich mit einigen unfreundlichen Worten hinaus. In der Nähe der Apotheke gab es noch ein Schreibwarengeschäft. Dort bekam ich meine Tinte.
Anfang Dezember 1943 kam ein hoher Offizier der Deutschen Wehrmacht in unsere Klasse. Er sagte: „Für die Jungen der Jahrgänge 1926 und 1927, deren Namen ich anschließend verlesen werde, ist heute der letzte Schultag in dieser Schule.“ Es waren: Gerhard KOPP, Erhard RAUSCHNING, Alfred OHLENHOLZ, Werner ULLOSAS, Siegfried ROSE und Cuno WELSCH. „Diese Jungen sind ab morgen als Marinehelfer nach Gotenhafen dienstverpflichtet.“ Im März 1944, am Ende des Schuljahres, erhielt ich das Entlassungszeugnis der anerkannten Mittelschule Kreuzingen.
Cuno WELSCH, Aurikelweg 18, 53840 Troisdorf, Tel. 02241 – 804368